Kapitel 11: Hinschauen

Veröffentlicht am 18. Oktober 2024 um 01:00

"Wo sind eigentlich Marie und Tommi?" Richard sah erschrocken zu Monika. Diese lächelte beruhigend. "Ich kann mir vorstellen, dass sich die beiden ein bisschen gelangweilt haben. Vermutlich sind sie dort, wo Marie immer hingeht, wenn sie mich auf der Arbeit besucht. Richard sah seine Frau fragend an. "So? Warum weiß ich davon nichts?" Monika zuckte mit den Schultern: "Komm mit. Hugo, du kannst auch gerne mitkommen. Dann siehst du gleich schon einen Teil unserer Fakultät und bekommst ein Gefühl für unsere Forschung. Folgt mir, aber bitte ganz leise und unauffällig!"

Zweistein erhob sich flatternd von Hugos Schulter und verschwand durch das geöffnete Fenster. Die drei Wissenschaftler verließen leisen Schrittes das Gebäude. Vorbei an den Pferdeställen der chirurgischen Veterinärklinik, aus denen ein Gemisch aus Pferdehaar-, Mist- und Jodgeruch strömte, schlenderten sie weiter Richtung Rinderklinik. Zwei kleine Kälbchen standen mit einer Mutterkuh im Auslauf und sahen interessiert zu den Menschen. Die Schwänze der beiden Kälber zuckten aufgeregt hin und her. Entlang des Anatomischen Instituts, einem historischen Gebäude, schlängelte sich der verwinkelte Weg vorbei an alten Betonbauten, die eher zweckmäßig erschienen. Zwischendrinn ragte ein fast monströs wirkender Neubau im Glanze des Sonnenlichts empor. Kleintierklinik stand auf dem Schild. Sie bogen um die Ecke auf einen kleinen Hinterhof zu. Monika öffnete vorsichtig eine alte Metalltür. Sie betraten einen Bereich mit Hundezwingern und kaltem Betonboden. Grau, steril und wenig einladend war es hier. Dennoch kamen ihnen drei außerordentlich freundlich und fröhlich wirkende vierbeinige Gestalten entgegen und schnüffelten an den Besuchern. "Das sind unsere Klinikhunde. Sie werden gehalten als Blutspender für Patientenhunde oder zum Üben für die Studenten." Hugo schaute erschrocken: "Operiert man auch an ihnen?" Monika schaute betrübt: "Für gewöhnlich nicht. Aber manchmal gibt es doch Wissenschaftler, die kleine Eingriffe, welche aber nicht von dauerhafter Einschränkung sind, in Narkose durchführen. Was mich aber eigentlich betrübt sind die Haltungsbedingungen. Bis heute haben wir noch nicht genug Fördergelder, um ihnen eine ihrem Wesen angemessene Behausung zu bieten. Die Zwinger stammen noch aus Zeiten, als man nicht so sehr um das Wohl unserer lieben Vierbeiner bemüht war. Was ich aber sehr begrüße, dass täglich Studenten herkommen, um sich um ihren Patenhund zu kümmern. Sie streicheln, gehen über das Klinikgelände spazieren oder spielen mit ihnen. Einige von ihnen können unsere Fakultätsbeagle nach einigen Jahren adoptieren. Das sind wahre Glücksmomente für die Hunde aber auch für uns Mitarbeiter. Was mir aber noch am Herzen liegt, sind die Umgangsformen, die Richard und ich mit Tieren pflegen. Wir möchten, dass diese Einzug in den Studentenunterricht erhalten." Der junge Mann schaute interessiert. Monika fuhr fort: "Als ich noch studierte banden wir die Hunde noch fest, um sie zu untersuchen. Das ist heutzutage glücklicherweise nicht mehr so. Es gibt Techniken, wie die Tiere bei Untersuchungen möglichst sicher, aber auch sanft gehalten werden. Wenn dann aber zehn Studenten hintereinander lernen, wie man ein Otoskop in ein Hundeohr einführt und das empfindsame Wesen immer mehr verspannt und winselt, sind wir noch nicht da, wo wir hinwollen. Die Bereitschaft ist da, das Interesse ist da, gerade hier bei uns an der tiermedizinischen Universität. Ich werde nicht müde, meinen Studenten mitzuteilen, dass jeder einzelne von uns das Wohl der Tiere verbessern kann und, dass wir auch Neues entdecken können. Es ist verwunderlich, dass heutzutage gefordert wird, Tierärzte sollen mehr betriebswirtschaftlichen Unterricht erhalten, damit sie später rentablere ihre Praxis führen können und auf der anderen Seite der Umgang mit dem Patienten Tier so wenig Beachtung findet. Daran arbeiten wir bei uns im Institut. Wir bringen den Studenten die Körpersprache der einzelnen Tierarten bei. Kaum zu glauben, aber das ist bisher nicht fester Teil des Unterrichtsplans gewesen. Und dann gehen die jungen Absolventen von der Uni in die Praxis oder Klinik und wissen gar nicht, wie sie mit Hund, Katze, Pferd, Rind oder dergleichen umgehen sollen. Sie wissen, welche Untersuchungen sie durchführen wollen, welche Krankheiten sie vermuten, aber ohne Kenntnisse über Tierverhalten oder Einfühlungsvermögen, kommen sie nicht weit. Sie wollen sich aber oft die Blöße vor den Tierhaltern nicht geben und dann behandeln sie die Vierbeiner so, wie sie es irgendwie im Laufe des Lebens gelernt haben, der eine wirklich einfühlsam, der andere eher planlos." Richard schob ein: "Und was in der Tierwelt an sich noch gar keine Beachtung findet, obwohl es viele intuitiv spüren, ist, dass unsere geistige und körperliche Haltung Einfluss auf das Tier hat. Hier hat ja auch der uns bekannte Professor vom FFEI angesetzt. Die Idee ist an sich nicht schlecht. Was uns aber wichtig und unabdingbar ist, dies mit einer Ethik am Tier zu verknüpfen. Tja, und so haben wir wirklich eine Menge zu erforschen, wenn wir das Handling am Tier mit Tierverhalten, Ethik und Meditation verbinden wollen." "Ich verstehe langsam", nickte Hugo, "und das macht für mich Sinn. ich bin froh, die schwere und unsichere Entscheidung getroffen zu haben, das FFEI zu verlassen. Das hier fühlt sich nach meinem Platz an, auch wenn es nicht so weich ist und es nicht an jeder Ecke hübsch glitzert." Er strich mit der Hand über die kühle, graue Betonwand und bekam eine leichte Gänsehaut. Neben seinem Bein jedoch klopfte ein Hundeschwanz. Hugo lächelte und lies den kleinen Beagle an seiner Hand schnuppern. "Eure Tochter und ihren Freund haben wir aber auch hier nicht gefunden." wandte er sich dann verdutzt an die zwei Forscherkollegen.

"Doch doch!" versicherte Monika und lächelte. Mit ihrem Finger deutete sie auf die hinterste Ecke in einem Zwinger. Dort saßen ein junges Mädchen und ihr bester Freund auf dem kühlen Betonboden. Auf jedem Bein lag ein Hundekopf mit halb verschlossenen Augen. Die Gliedmaßen entspannt auf dem Boden ausgestreckt schienen die Klinikhunde die Anwesenheit der beiden Kinder zu genießen. Das kleine Mädchen hielt ihre Hände wie zum Schutz mit etwas Abstand über den Rücken des einen Beagles. Nichts passierte. Es war still. Dann seufzte dieser, sein Bein zuckte und er streckte sich, um dann nur noch tiefer in die Entspannung zu gleiten.

Hugo schaute fast sehnsüchtig und sichtlich berührt zu den Kindern und den Hunden. "Das hier ist keine Universität mehr! Dies ist eine Schule der stillen Begegnung! Ich darf Teil hiervon sein. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich danke Euch!" "Wir danken dir", sagte Richard und Monika nickte. Dann setzten sie sich ebenfalls auf den wenig einladenden Boden und wurden still. Kalte, feuchte Nasen schnupperten in ihren Gesichtern. Eine kleine Pfote legte sich auf Hugos Bein, dann der Kopf und schließlich der ganze Oberkörper. "Du bist ganz schon schwer, mein kleiner Freunde" lachte Hugo leise. Dann merkte er, dass ihn zwei dunkle Augen tief anblickten. Hugo vergaß beinah zu atmen, so berührt war er. Dann nahm er sich zusammen, ließ es zu, atmete tief ein und entspannte. Es war nicht leicht, denn immer wieder überkamen ihn starke Gefühle. Doch das kleine Wesen, welches nun die Augen sanft schloss und den Kopf ablegte, ließ ihn still sitzen. Zu Kostbar war dieser Moment.